Schöne Seele im Alltag

6. Mai 2025
Die Waage als Symbol des Gleichgewichts von Pflicht und Neigung. (Bild: pixabay.com)

Maria Stuart, ein Drama von Friedrich Schiller, behandelt Themen wie Macht, Weiblichkeit und Herrschaft, Gerechtigkeit und Schuld auf lebendige Weise. Wir haben das Drama im Deutschunterricht gelesen und uns Gedanken über verschiedene dieser Themen gemacht und besprochen. Ein wichtiger Teil der Besprechung war das Gleichgewicht von Pflicht und Neigung der beiden Königinnen, oder die schöne Seele, wie es Friedrich Schiller bezeichnet. Ich werde die Gedanken über dieses Thema im ersten Teil dieses Blogs rekapitulieren und im zweiten Teil die Idee auf unseren Alltag übertragen.

Schillers Konzept der schönen Seele

Laut Friedrich Schiller hat jeder Mensch immer zwei Seiten, die der Pflicht und die der Neigung. Sie können auch als Körper und Geist bezeichnet werden, Körper für Emotionen, Gefühle und Triebe, und der Geist für Verstand, Ratio und Ideen. Die Figuren der Werke Friedrichs haben diese beiden Seiten immer in einem gezielt gewählten Verhältnis, das sich im Verlauf der Handlung verändern kann. So ist es auch mit Maria Stuart.
Das Verhältnis von Pflicht und Neigung schwankt bei Maria von Akt zu Akt. Sie beginnt im ersten Akt mit der Pflicht- und Neigungsseite im Gleichgewicht, gerät aber durch Mortimer verstärkt auf die Pflichtseite. Im weiteren Verlauf der Akte driftet sie wieder auf die Neigungsseite ab. Mortimer hetzt Maria jedoch immer wieder auf, sich zu bemühen, Königin zu werden. Dies führt dazu, dass sie erneut auf die Pflichtseite rutscht. Ihre Neigungsseite zeigt sich hauptsächlich durch ihren katholischen Glauben und ihren weiblichen Merkmalen: Ihre Liebe zu Leicester und ihre Sehnsucht nach Menschlichkeit. Auf ihrer Pflichtseite muss sie sich mit ihrer Hinrichtung auseinandersetzen und ihre Rolle als Mensch mit Anspruch auf den Thron einnehmen.
Bei Elisabeth bestimmt ihre Rolle als Königin von England und ihre damit verbundenen Verpflichtungen gegenüber ihrem Volk ihre Pflichtseite. Ihre Neigungsseite zeigt sich unter anderem durch ihre Neigung zu Maria. Elisabeth hat aus Sicht der Pflichtseite Gründe genug, Maria hinzurichten, sie spürt aber dennoch eine Zuneigung für Maria und beneidet sie; dies zeigt sich auf ihrer Neigungsseite.
Friedrich Schiller beschreibt das ausgeglichene Gleichgewicht von Pflicht und Neigung als schöne Seele. Ein Mensch, der Pflicht und Neigung harmonisch nebeneinander ausleben kann, ist edel, hat Würde und lebt ein erfülltes Leben. Sind die widersprechenden Seiten im Einklang, strebt der Mensch zum idealen Zustand der schönen Seele. Jeder Mensch sollte als Ziel eine schöne Seele haben.

Pflicht und Neigung im Alltag

Wir sprechen meist nicht von einer schönen Seele, dennoch machen wir uns dieselben Gedanken und haben dieselben Ziele auch heute im Alltag. In unserem Verständnis eines «normalen» Alltags hat jeder Mensch eine Pflichtseite wie eine Neigungsseite. Die Arbeit, die Ausbildung oder der Haushalt sind primär Pflichten, die wir in unserem Alltag haben. Während unter anderem Ruhe, Entspannung, Liebe, soziale Interaktion und Schlaf unsere Neigungen im Alltag darstellen. Vereinfacht könnte man auch bei Arbeit von Pflicht und bei Freizeit von Neigung sprechen.
Häufig erledigen wir alltägliche Pflichten nur widerwillig oder versuchen, sie möglichst schnell hinter uns zu bringen. Hingegen gehen wir Dingen, die unseren Neigungen entsprechen, mit Freude nach. Trotz unserer Präferenzen erledigen wir auch unsere Pflicht. Schenkt man der Idee der schönen Seele Zustimmung, müssen beide Seiten in einem Gleichgewicht in jedem Alltag vorhanden sein. Wir wünschen uns oft einen Alltag mit ausschliesslich Aspekten der Neigung, doch wäre ein solches Leben erstrebenswert? Viele würden auf diese Frage trotz ihrer Träume und Wünsche mit einer Verneinung antworten. Man wird in diesem Leben keinen tieferen Lebenssinn finden, Pflichtbewusstsein wird nicht gefördert, Verlässlichkeit wird sinken und der Egoismus wird zunehmen. Ohne Pflichtbewusstsein und Verlässlichkeit wäre ein geordnetes und wünschenswertes Zusammenleben gar nicht möglich, weil soziales Miteinander auf Verantwortung und Verlässlichkeit basiert. Andererseits wäre ein Alltag mit ausschliesslich Pflichten ebenfalls nicht erstrebenswert. Wir würden unsere Lebensfreude verlieren, uns persönlich nur beschränkt weiterentwickeln und unsere Leistungen würden mehr und mehr aus Überarbeitung abnehmen. Ohne Ruhe und Erholung enden wir in einem Burnout, einer Depression oder ähnlichem. Zu einem erstrebenswerten Alltag gehören also Aspekte der Pflicht und der Neigung. Beide Seiten müssen ausgeglichen und harmonisch im Alltag, zeitlich und ressourcentechnisch, Platz finden. Sind beide Seiten in einem Gleichgewicht, sind wir leistungsfähiger, durch genügend Erholung und dennoch glücklich, durch genug Zeit für Aspekte der Neigung, wie beispielsweise Freizeit und Hobbies. So kann eine schöne Seele anvisiert werden. Es ist eine Kunst, das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit, Pflicht und Neigung, zu halten. Gelingt sie, trägt sie wesentlich zu Wohlbefinden und langfristiger Leistungsfähigkeit bei.


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