Der Sandmann, eine Erzählung von E.T.A Hoffmann, wurde 1816 zum ersten Mal veröffentlicht. E.T.A Hoffmann war ein bedeutender deutscher Schriftsteller der Romantik. Der Sandmann wird von Literaturwissenschaftlern im Allgemeinen in die Epoche der Romantik eingeordnet. Weshalb wir im Deutschunterricht diese Erzählung als Beispiel für die Romantik gelesen und darüber gesprochen haben. Im Folgenden werde ich den Unterricht in Bezug auf die Deutungs-möglichkeiten rekapitulieren und anschliessend eine Deutungsmöglichkeit weiter ausführen.
Ein wesentlicher Teil unserer Besprechung waren die Deutungsmöglichkeiten von Erzählungen wie Der Sandmann. Unser Lernziel war nicht die vollständige Deutung aller Möglichkeiten. Dieses Vorhaben wäre gar nicht möglich. Denn die Deutung eines derartigen Textes ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Bei der Deutung eines literarischen Textes wird der Text im Kontext anderer Werke, Ideologien oder historischer Bedingungen betrachtet und verglichen. Jeder Mensch hat jedoch auch einen anderen intellektuellen Zugang und ein unterschiedliches Denken über solche Sachverhalte, da jeder Mensch eine, wenn oft auch ähnliche, unterschiedliche Weltanschauung und verschiedene Erfahrungen hat. Deshalb unterscheidet sich also auch die Deutung des literarischen Textes. Unser Ziel bestand vielmehr darin die nötigen Schritte zur Analyse eines solchen Textes kennenzulernen, anwenden zu können und grundlegende Prinzipien der Deutung von Der Sandmann verstehen zu können. Wir haben den Prozess der Deutung in zwei Teile eingeteilt, als erste Phase die Textsicherung (inhaltliche Ebene) und als zweite Phase die Textdeutung (Bedeutungsebene). Die erste Phase wird gerne übersprungen, obwohl sie ein wichtiger Schritt ist. Dabei liest man den Text aufmerksam durch, schlägt Wörter nach und nutzt Hilfsmittel sinnvoll, wie ein Kommentarabschnitt im Buch oder das Internet. Das Ziel ist dabei, eine solide Basis, die für alle Leser gleich sein sollte, zu konstruieren, von der ausgehend die weitere Deutung folgen kann. Nun folgt die zweite Phase, dabei gibt es mehrere Deutungsansätze und das Resultat unterscheidet sich von Leser zu Leser. Es können sprachliche und stilistische Mittel näher betrachtet werden. Welche Emotionen sollten sie auslösen? Was lösen sie tatsächlich für sich persönlich aus? Gibt es Metaphern, rhetorische Stilmittel oder Symbole und was sollten sie bewirken? Alternativ kann der Text mit dem historischen Kontext verglichen werden. Themen und Motive können extrahiert und untersucht werden. Eine andere Möglichkeit ist die werkübergreifende Deutung, bei der der Text mit anderen Texten desselben Autors verglichen wird, um Zusammenhänge und Verknüpfungen zu finden.
Wir haben im Kommentarabschnitt unserer Ausgabe der Shurkamp BasisBibliothek eine Sammlung der populärsten Deutungsansätze für Der Sandmann. Im weiteren Teil meines Blogs möchte ich besonders auf die Deutungsmöglichkeit eingehen, die ganz am Schluss kurz erwähnt wird und mit Narzissmus betitelt ist.
Ein wenig differenziert von anderen Deutungsmöglichkeiten, die wir im Deutschunterricht besprochen haben, zeigt sich eine Möglichkeit im Zusammenhang mit Narzissmus. Doch was unterstützt oder bestätigt die Annahme, dass Nathanael in Der Sandmann ein stark ausgeprägtes narzisstisches Denken hat?
Zu Beginn stellt sich die Frage: Wie wird Narzissmus definiert und was sind die wichtigsten Aspekte dieses Begriffs? Narzissmus beschreibt ein Merkmal einer Persönlichkeit, die ein starkes Bedürfnis für Anerkennung und Bewunderung zeigt. Personen mit ausgeprägtem narzisstischem Denken sehen ihr Selbstbild besser und über dem anderer. Meist fehlt es solchen Personen an Empathie. Narzissmus muss jedoch nicht immer negativ sein, in gesundem Masse ist Selbstliebe schliesslich nötig und wichtig.
Im Text zeigen sich mehrere Stellen, die bestätigen könnten oder zumindest darauf hinweisen, dass Nathanael ein Narzisst ist. Zum Beispiel als Nathanael mit Coppelius konfrontiert wird und die rationalen Erklärungen für dieses Geschehen Claras anhört, kann er diese nicht nachvollziehen. Die Sorgen, das Mitgefühl und die Belastung die Clara für Nathanael empfindet, kann er nicht erkennen und wahrnehmen. Dies könnte eine Folge mangelnder Empathie sein. Abgesehen davon widerspricht Clara mit ihren Erklärungen den Ansichten und Überzeugungen Nathanaels. Durch sein narzisstisches Denken ist er erst recht überzeugt von seinen Ansichten. Er lässt die rationalen und logischen Hinweise von Clara nicht zu und bleibt seiner Überzeugung treu. Später im Verlaufe der Handlung als Nathanael mit Olimpia zusammentrifft, entwickelt er eine starke Liebe zu ihr. Hoffmann beschreibt an mehreren Stellen wie Nathanael in den Augen der Olimpia die Sehnsucht und Liebe sieht, in die er sich sofort verliebt. Wendet man die narzisstischen Merkmale auch hier wieder auf Nathanael an, kann man sich auch dieses Verhalten sehr gut erklären. In den Augen Olimpias sieht Nathanael sein eigenes Selbstbild gespiegelt. Durch seine starke Liebe zu sich selbst, verliebt sich Nathanael in Olimpia, ihre Augen und somit in sich selbst. Hoffmann schreibt, dass sich Nathanael von Olimpia besser verstanden fühlt, wie von niemand anderem. Nach der Annahme, dass Olimpia also das Selbstbild von Nathanael widerspiegelt, ist dieses Verhalten auch nicht weiter verwunderlich. Wer fühlt sich von sich selbst nicht am besten verstanden? Dazu kommt sein Narzissmus, der dieses Empfinden noch verstärkt, denn Narzissmus ist schliesslich eine übertriebene Form der Selbstliebe.
Eine Deutung in Bezug auf Narzissmus des Textes Der Sandmann unterscheidet sich zwar von vielen anderen Deutungsansätzen. Doch wie es sich zeigt, erkennt man auch bei diesem Ansatz viele bestätigende Sachverhalte.